Stolperstein-Verlegung von Gunter Demnig in Nierstein für Opfer der „Aktion T4”
Am vergangenen Samstag lud der Geschichtsverein Nierstein zur Stolperstein-Verlegung ein, um an zwei Niersteiner Bürger zu erinnern, die im Rahmen der „Aktion T4” in Hadamar ermordet wurden – wie Zehntausende andere auch. Ein ergreifendes Ereignis, in dessen Rahmen ich Stolperstein-Initiator Gunter Demnig kennenlernen durfte.
Gunter Demnig verlegt Stolperstein für Johanna Schneider in NiersteinMit den beiden Stolpersteinen wurden erstmals in Nierstein Opfern der Krankenmorde ihre Namen wiedergegeben. Der Künstler und Stolperstein-Initiator Gunter Demnig verlegte beide Steine selbst. Damit steigt die Gesamtzahl der Stolpersteine in Nierstein auf 57. Bislang hatte der Geschichtsverein Nierstein seit 2013 insgesamt 55 Stolpersteine für verfolgte und ermordete Juden sowie verfolgte politische Gegner der Nationalsozialisten verlegt.
Jörg Adrian (Gedenk- und Erinnerungsarbeit im Geschichtsverein Nierstein e.V.) war so freundlich, mir vorab biographische Skizzen der beiden Mordopfer zukommen zu lassen. Im nächsten Jahr soll ein Buch mit Biographien der Opfer in Nierstein mit Quellenangaben erscheinen.
Inhaltsverzeichnis
- Johanna Schneider
- Aus der biographischen Skizze
- Hans Borngässer
- Aus der biographischen Skizze
- Stolperstein-Initiator Gunter Demnig
- Warum dieser Artikel beim Entspannenden?
- Weiterführende Links
- Aktion T4
- Stolpersteine – die Website
- Stolpersteine goes Wikidate (Wikimedia)
- RiffReporter Podcast: Warum braucht es immer noch Stolpersteine, Björn Göttlicher?
- Ein Teil von uns – Stolpersteinverlegung in Scheßlitz
Johanna Schneider
Vor dem Wohnhaus Johanna Schneiders in der Großen Fischergasse 9 war die erste Stolperstein-Verlegung. Johanna Schneider wurde in den 1930ern Schizophrenie attestiert, 1941 wurde sie in Hadamar ermordet. Neben Mitgliedern des Geschichtsvereins waren Pfarrer Graebsch mit Konfirmanden und Familienangehörigen vor Ort. Sie hatten die Lebensläufe der beiden Opfer recherchiert und zusammengetragen. Gemeinsam wurden drei Strophen von Dietrich Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben” (Wikipedia) gesungen. Zuvor war der Text an die Teilnehmer und Gäste ausgeteilt worden.
Die Krankenpflegerin Johanna Schneider wurde am 21. September 1893 in Nierstein geboren. Wegen der Diagnose Schizophrenie wurde sie 1934 zunächst in die Heil- und Pflegeanstalt Alzey eingeliefert. Sie wurde am 21. Mai 1941 im Rahmen der sogenannten T4-Aktion in Hadamar ermordet.
(aus der Veranstaltungsbeschreibung)
Aus der biographischen Skizze
Nachdem sie einige Jahre in Alzey verbracht hatte, wurde die Anstalt 1940 geräumt, und sie kam zunächst ins Philippshospital Goddelau, das zu dieser Zeit bereits in der „Aktion T4” einbezogen war. Gemäß dem rassen-politischen Programm der Nationalsozialisten übernahmen Heil- und Pflege-Anstalten „gesundheits- und bevölkerungspolitische” Aufgaben, wozu auch die „erbbiologische Erfassung” der Gepflegten gehörte. Wie Johanna Schneider ihre letzte Zeit verbrachte, und wie es ihr erging, ist unklar. Wie in vielen Bereichen erfolgte auch hier im „Endkampf” eine systematische Vernichtung aller möglichen Beweise, sodass ihre Krankenakte nicht vorliegt.
Indem sie das offiziell mitgeteilte Todesdatum, die Todesursache und den Sterbeort meist systematisch falsch angaben, betrieben die eigens bei den Tötungsanstalten eingerichteten Sonderstandesämter einen großen Aufwand, um die tatsächlichen Todesumstände zu verschleiern und sowohl Angehörige als auch Behörden zu täuschen.
Mit manipulierten Todesdaten gelang es, noch für längere Zeit Pflegegeld über die jeweiligen Kostenträger einzunehmen – so auch bei Johanna Schneider. Am 21. Mai 1941 wurde sie mit anderen in Hadamar ermordet.
Hans Borngässer
Die zweite Stolperstein-Verlegung fand in Nierstein-Schwabsburg in der Hauptstraße vor dem Wohnhaus der Familie Hans Borngässers statt. Auch hier waren Familienangehörige vor Ort. Im Innenhof gab es Informationen und Hintergründe zu Hans Borngässer. Von der aufwändigen Pflege ihres Sohnes und finanziellen Sorgen überfordert, mussten die Eltern ihren Sohn Hans Borngässer bereits im Alter von vier Jahren in die „Anstalt für Epileptische in Hessen“ in Nieder-Ramstadt bei Darmstadt geben (die heutige Region Rheinhessen gehörte damals seit 1816 zu Hessen).
Hans Borngässer wurde am 7. Juli 1917 in Schwabsburg geboren. Seit 1922 befand er sich in der Nieder-Ramstädter Anstalt für Epileptische. Aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom Juli 1933 wurde er 1937 zwangssterilisiert. Er wurde am 21. März 1941 im Rahmen der sogenannten T4-Aktion in Hadamar ermordet.
(aus der Veranstaltungsbeschreibung)
Aus der biographischen Skizze
Auch Hans Borngässer war wie Johanna Schneider in Goddelau und wurde zuletzt über die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster („notwendige Luftschutzmaßnahmen”, teilte man den Eltern mit) nach Hadamar zur „Aktion T4” gebracht. Wie oft üblich, gab es keine Krankenakte mehr, sondern nur noch eine „Notakte”, in der die Gegenstände verzeichnet waren, die dem Patienten Hans Borngässer bei seiner Überführung nach Weilmünster mitgegeben wurden.
eine Kappe, drei Röcke und drei Hosen, zwei Unterhosen und vier Taghemden, eine Halsbinde und fünf Taschentücher, vier Paar Strümpfe sowie ein Paar Schuhe.
Weilmünster war nur eine Durchgangsstation nach Hadamar, wo im Rahmen der „Aktion T4” zehntausende Pflegebedürftige (oder vermeintlich pflegebedürftige) umgebracht wurden. Hans Borngässer wurde am 21. März 1941 nach Hadamar gebracht und umgebracht.
… eine von sechs ausgewählten psychiatrischen Einrichtungen, die seit Kriegsbeginn zu Tötungsanstalten umgebaut worden waren. Er wurde noch am Tag seiner Ankunft in der im Keller der Anstalt befindlichen Gaskammer ermordet. Sein Leichnam wurde anschließend verbrannt.
Stolperstein-Initiator Gunter Demnig
Während der Stolperstein-Verlegung für Hans Borngässer habe ich mich mit Gunter Demnig unterhalten. Ich habe ihn in der kurzen Zeit als einen ruhigen, nachdenklichen aber bestimmten und großartigen Menschen erfahren und schätzen gelernt.
Während der beiden Verlegungen hielt er sich im Hintergrund, brach Steine aus dem Bürgersteig aus, setzte die Stolpersteine ein. Ein bisschen kam es mir vor, als ob er keine Aufmerksamkeit wollte. Demnig verriet mir, dass nach den Wahlergebnissen in Thüringen die Anzahl der Anfragen für Stolpersteine in Thüringen stark anstiegen. Andererseits erzählte er mir auch, dass in einer Gemeinde Sachsens CDU, AfD und Freie Wähler gemeinsam eine Stolperstein-Verlegung verhindert hatten.
Gunter Demnig begann 1996, Stolpersteine zur Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus zu verlegen. Er war nach seinem Kunststudium in Kassel zunächst bis 1985 künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Kunst der Universität Kassel. Danach eröffnete er ein eigenes Atelier in Köln.
Bekannt wurde Demnig durch die Herstellung der Stolpersteine, die er auch selbst verlegt. Sie sollen an Menschen erinnern, die der NS-Diktatur zum Opfer fielen. Die Steine, die auf der Oberseite kleine Messingplatten mit den Namen der Opfer tragen, verlegt er vor deren einstigen Wohn- und Lebensorten im Straßen- oder Gehwegpflaster. Das 1996 gestartete Projekt, bis 2017 in 1200 deutschen Kommunen realisiert, gilt seit Jahren als das größte dezentrale Mahnmal der Welt und zählt mittlerweile 100.000 Steine in 31 Staaten Europas (2023)
Warum dieser Artikel beim Entspannenden?
Dieses Blog behandelt Wandern, Genuss und Kultur.
Kultur bezeichnet im weitesten Sinne alle Erscheinungsformen menschlichen Daseins, die auf bestimmten Wertvorstellungen und erlernten Verhaltensweisen beruhen und die sich wiederum in der dauerhaften Erzeugung und Erhaltung von Werten ausdrücken.
(Seite „Kultur“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 22. März 2025, 09:54 UTC.)
Im Laufe der vergangenen und geschehenden Geschichte entsteht Kultur durch Wertevorstellungen und Handlungen – auch früher und jetzt in Rheinhessen. Das Wiedererstarken nationalsozialistischer Wertevorstellungen und das Auftreten Rechtsextremer hat Einfluss und prägt unsere Kultur auch in Rheinhessen – ob wir das wollen oder nicht. Deswegen ist es wichtig, die Vergangenheit und ihre Kultur nicht zu vergessen, sondern daraus für heute und für die Zukunft zu lernen.
Weiterführende Links
Aktion T4
Aktion T4 ist eine nach 1945 gebräuchlich gewordene Bezeichnung für den systematischen Massenmord an mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland von 1940 bis 1941 unter Leitung der Zentraldienststelle T4. Diese Ermordungen waren Teil der Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus, denen bis 1945 über 200.000 Menschen zum Opfer fielen.
Neben rassenhygienischen Vorstellungen der Eugenik sind kriegswirtschaftliche Erwägungen während des Zweiten Weltkrieges zur Begründung der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ herangezogen worden. Gleichzeitig mit ersten kirchlichen Protesten wurden die Tötungen nach „Leerung“ ganzer Anstaltsteile von „Heil- und Pflegeanstalten“ (vor 1934 gewöhnliche Bezeichnung: „Irrenanstalt“) seit 1941 unter der Bezeichnung „Aktion 14f13“ dezentral fortgesetzt.
„T4“ ist die Abkürzung für die Adresse der damaligen Zentraldienststelle T4 in Berlin: Tiergartenstraße 4.
Stolpersteine – die Website
Ein Projekt, das Erinnerung an die Vertreibung der Juden, der Sinti und Roma, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im Nationalsozialismus lebendig hält.
Stolpersteine goes Wikidate (Wikimedia)
„Stolpersteine goes Wikidata“ heißt ein Projekt, mit dem eine Gruppe von Wikipedianer*innen ein ambitioniertes Ziel verfolgt: Alle Informationen zu den Personen und den Verlege-Orten der Gedenksteine für die Opfer des Nationalsozialismus sollen digital verfügbar werden. Der Mitinitiator Cookroach erklärte im Interview, wie dabei sinnvolle Verbindungen zwischen den Schwester-Projekten Wikipedia, Wikimedia Commons und Wikidata entstehen – und warum Erinnerungskultur so wichtig bleibt.
(Digitale Stolpersteine – Wie die Wiki-Community Erinnerungskultur voranbringt)
RiffReporter Podcast: Warum braucht es immer noch Stolpersteine, Björn Göttlicher?
Riffreporter Björn Göttlicher hat für eine Reportage den Künstler Gunter Demnig bei der Verlegung von Stolpersteinen begleitet und Menschen getroffen, die erklären, warum es auch heute immer noch notwendig ist, die Steine zu verlegen.
RiffReporter Podcast: Warum braucht es immer noch Stolpersteine, Björn Göttlicher?
Ein Teil von uns – Stolpersteinverlegung in Scheßlitz
Gunter Deming verlegt Stolpersteine in Scheßlitz und Demmelsdorf im Kreis Bamberg zum Andenken an die ermordeten Juden.